Montag, 13.08.2001

"Guten Morgen! Aufstehen!"
Die Stimme der freundlichen Hüttenwirtin klingt in diesem Moment schrecklich wie mein Wecker. Irgendwie muß ich doch geschlafen haben... Thomas meint, ich hätte sogar noch geschnarcht.
Sind wir nicht verrückt???
Statt Urlaub zu machen und die Gegend zu genießen, müssen wir unbedingt auf einen Berg. Schinden, schwitzen, am Ende nichts sehen...
Nichts sehen?!
Draußen ist es sternenklar.
Dünn steht die Mondsichel am noch dunklen Himmel, es sind -2°C.
Aber trotzdem frieren wir nicht. Wir sitzen mit anderen müden Gestalten wortlos und mürrisch am Tisch und zwingen uns, diese mit ein wenig Marmelade bestrichenen trockenen Weißbrotscheiben, zu zerkauen und zu schlucken. Das geht allerdings nur in Verbindung mit viel Tee. Obwohl, wenn ich es mir recht überlege, hat das Zeug schon viel schlimmer geschmeckt.
Eigentlich geht es mir jetzt ganz gut.
Ein leichter kleiner Schwindel, der Kopfschmerz ist fast weg, aber die Kraft und der Wille, heute diesen Berg zu besteigen sind auf jeden Fall da.
Unten wird gedrängelt, geschimpft, gesucht... Alles im Geflacker der Stirnlampen, doch schließlich sind wir alle irgendwie fertig geworden, der Gurt ist angelegt, die Handschuhe gefunden. Und dann geht es auf schmalem Pfad der Glühwürmchenkette hinterher hinab an den Rand des Hohlaubgletschers.
Im Dunklen schnallen wir die Steigeisen an, Thomas hat die Gebrauchsanweisung nicht gelesen, das bedeutet für uns nun, dass wir eine ganze Weile mit Gefluche und Wutausbrüchen verbringen, ehe er die Technik begriffen hat und wir tatsächlich weitergehen können. Ein blauer Fleck an seinem Schienbein zeugt noch ein paar Tage von dieser Stunde.
Doch dafür haben wir noch eine große Sternschnuppe gesehen. Unser gemeinsamer Wunsch ist sicher klar.

Das Strahlhorn glüht von rosa über orange bis gelb, ehe es in seinem alltäglichen Weiß blendet.
Nach der ersten steileren Stufe befinden wir uns halb neun auf ca. 3400 Metern.
Ein wenig deprimierend ist das schon, wir sind nach diesem Anstieg ziemlich außer Atem und noch liegen vor uns kilometerlange Eisflächen und 800 Höhenmeter.
Mittlerweile dämmert es, im blauen kalten Licht sehen wir vor uns den Gletschergipfel des Strahlhorns. Daneben das Rimpfischhorn.
Der Hohlaubgletscher ist schnell überquert, die Spalten am Rand des Allalingletschers sind dann sehr respekteinflößend und wir versuchen, soweit es die Spur zuläßt, Abstand zu halten.
Und nun steigt langsam die Sonne über den Weißmieskamm im Osten und wir gehen ganz allmählich ansteigend den großen Gletscher aufwärts.
Die Wolken im Südosten sehen aus, als ob ein Tiefdruckgebiet versucht, in unser Gebiet hinein zu drehen. Aber im Laufe der nächsten Stunden werden diese immer weiter abgedrängt, so dass uns heute wirklich ein wunderbarer Tag erwartet.
Nach einer Trinkpause, es wird warm und wir trocknen schnell aus, überholen wir sogar noch ein französisches Paar.
Dann folgt die zweite steilere Stufe, ich bin mittlerweile so fertig, dass ich beginne, die Schritte zu zählen und mich verfluche, überhaupt aufgestanden zu sein.
100 Schritte, Pause, 100 Schritte.
Das klingt einfach, gilt aber nur für die jeweils ersten 20 Schritte, die restlichen 80 sind ein anstrengendes Hinarbeiten bis zur 100. Dasselbe erzählt mir später auch Thomas.
Dabei sind wir konditionell recht gut drauf, aber die Höhe und die fehlende Akklimatisation machen sich hier sehr deutlich bemerkbar. Mangels Sauerstoff ist der Körper einfach nicht mehr zu gewohnten Anstrengungen in der Lage. Man fühlt sich maßlos ausgepowert.
Aber dreiviertel zehn stehen wir trotzdem auf dem Adlerpaß, der Höhenmesser zeigt 3800 Meter.
Und auf der jenseitigen Talseite zeigt sich das Mattertal mit einem Panorama vom Castor (4228) über Pollux, Breithorn (4165), Matterhorn (4472), Dent Blanche, Weißhorn. Das entschädigt für die Mühen.
Trinkpause, noch 400 Höhenmeter, unter normalen Verhältnissen eine knappe Stunde.
Aber hier und jetzt ist nicht einschätzbar, wie lange wir noch benötigen werden. Dazu der Blick auf den weiteren steileren Eisanstieg, der in die höheren, wieder flacheren Bereiche überleitet.
Während der Pause ziehen die Franzosen an uns vorbei, doch sie sind so langsam, dass ich beginne, mitten im Steilstück zu überholen. Unklug, denn auch Thomas, der am Seil hinter mir hängt, muß sich nun an ihnen vorbei zwängen und sie machen keinen Platz. So wird es arg eng.
Wir haben währenddessen eine weitere deutsche (es scheinen Sachsen zu sein) Seilschaft überholt. Auch die sind sehr langsam.
Im Schneckentempo, inzwischen sind es nur noch 50 Schritte und Pause, schleichen wir weiter bergauf.
Der schmale Abschnitt liegt nun unter uns, der Blick auf die Walliser Viertausender interessiert uns im Augenblick gar nicht, unsere Augen bohren sich in die wenigen Meter Spur, die sich allmählich den Hang emporzieht. Die ersten Seilschaften sind bereits auf dem Abstieg, darunter auch der Dresdner. So wird es oben vielleicht etwas ruhiger werden. Eine andere Zweierseilschaft Franzosen hat uns indessen raschen Schrittes überholt. Wie machen die das ???
Dann sehen wir den Gipfel, der letzte Hang, oben der Felsgipfel.
Und dann haben wir es geschafft.
11.20 Uhr stehen wir auf dem schmalen Gipfelgrat in 4190 Metern Höhe, ersparen uns die Felsen, riskieren nur einen kurzen Blick über die Gipfelwächte hinab zum Mattmarkstausee, hinüber zur Weißmies und knipsen rasch zwei Gipfelfotos.
Thomas geht es nicht besonders gut.
Infolge der Anstrengung hat sein Körper zu viel Zucker verbrannt, er muß schleunigst etwas zu sich nehmen.
Aber das ist hier oben auf dem schmalen Gipfel recht schwierig, also steigen wir wieder ein Stück hinab auf einen breiten Sattel, 4100 Meter hoch gelegen und stellen dort auch noch einmal die Gipfelfotos nach.
Ich fotografiere das gesamte Panorama vom Aletschgletscher und Aletschhorn im Norden über Allalinhorn (4027), Alphubel (4210), Täschhorn (4490), Dom (4545), Rimpfischhorn (4199), Weißhorn (4514), Matterhorn (4472), Breithorn (4165), Castor (4228, dort oben könnten jetzt vielleicht Mike und Jürgen stehen), Liskamm bis hin zu dem gewaltigen Monte-Rosa-Massiv, welches die Signalkuppe (4554), Zumsteinspitze (4563), Dufourspitze (4632) und Nordend (4609) krönen. Sogar einen Blick in die mächtigste Wand der Alpen, die Monte-Rosa-Ostwand können wir werfen.
Und die Signalkuppe scheint noch sehr weit weg zu sein, unerreichbar...
Unbedingt müssen wir jetzt auch etwas essen und trinken, ehe wir wieder bergab gehen.
Aber diese Momente hier oben sind so wunderbar, uns geht es noch so gut, dass wir das alles ringsherum wirklich in vollen Zügen genießen und in uns aufsaugen können. Selbst wenn wir vom Monte Rosa ohne Gipfel wieder heimkehren müssen, haben wir hier und jetzt solch ein schönes Gefühl, welches einen Mißerfolg wohl sicher aufwiegen kann.
Aber auch das Wohlfühlen hat bald ein Ende, wir müssen nun aufbrechen, die hochstehende Sonne weicht zunehmend den Gletscher auf und der Abstieg wird zur großen Schinderei, bei der das steile Stück über dem Adlerpaß noch das angenehmste wird.
Viel schlimmer gestalten sich die Stunden auf dem Allalingletscher, wo wir mühsam und durstig in ausgetretenen aufgeweichten Spuren durch die Hitze müssen. Und zum Abschluss drohen noch die bröckelnden Schneebrücken über gähnenden großen Spalten im Labyrinth am Rande zum Hohlaubgletscher, welche wir sehr vorsichtig und einzeln überqueren müssen. Noch einmal absolute Konzentration, dann der Eissumpf auf dem Hohlaubgletscher, endlich die Steigeisen abschnallen und der letzte steile Pfad hinauf zur Hütte.
Dort ist reges Leben.
Tagesausflügler und Viertausenderleute bunt gemischt. Und wir mitten drin.
Eine Apfelschorle ist jetzt genau das Richtige.
Und dann, in den Minuten, die ich auf dem Klo verbringe, wird Thomas Zeuge eines gewaltigen Gletscherabbruches, der ins Saastal hinab fegt.
Das müssen zigtausende Kubikmeter Eis gewesen sein, die da völlig lautlos abgebrochen sind.
Gibt es nach der Chaostheorie einen Zusammenhang zwischen meinem Klobesuch und dem Eisabbruch???
Wir waren oben!
Und wir sind tief befriedigt.
Wir haben einen Viertausender gemacht.
Nun scheint mit einem Male auch der Monte Rosa greifbar.
Aber noch haben wir keine Ruhe.
Die letzte Bahn ins Tal (da wir nicht zu Fuß 1400 Meter absteigen wollen) fährt 16.45. Jetzt ist es 16 Uhr!
Also bleibt uns nur der überstürzte Aufbruch über die Sulzpiste hinüber zum Felskinn.
Auf dem schöneren Weg zum Plattjen hinab würden wir mindestens eine reichliche Stunde benötigen.
Und so stehen wir glücklicherweise rechtzeitig in der Gondel, die uns mit einer Familie orthodoxer Juden hinab nach Saas Fee trägt.
Bald darauf sind wir wieder unten in Saas Fee, so wie gestern, umgeben vom gigantischen Bergen, nur jetzt genau so sonnenverbrannt, schweißnass und einen strengen Geruch ausströmend, wie die Anderen, die uns entgegenkamen.
Und wir fühlen uns nun auch so wie diese.
Bevor wir wieder ins Auto steigen, kaufen wir noch Briefmarken, um an die Familien noch eine Ansichtskarte zu schicken. Erfolgsmeldung... Danach, Thomas in seinem erzgebirgischen Stil fährt wieder, rollen wir schnell hinab ins Saastal.

Abgehakt, vorbei...

Wir haben nun den ersten wichtigen Schritt zur Akklimatisation unternommen, mit dem angenehmen Nebeneffekt, dass wir auf diese Wiese einen Viertausender bestiegen haben, zusätzlich schönes Wetter und eine wunderbare Aussicht hatten.
Aber nun sind wir erst einmal auf dem Weg in die Wärme zurück. In die Hitze des Rhonetals... .
Bei Visp nehmen wir den erstbesten (nein, den zweiten, da dort ein Schwimmbad ist) Zeltplatz. Und dieser, unter Bäumen, umgeben von hohen Bergen, liegt tatsächlich ideal.
Der Zeltplatzchef ist ein ganz lustiger Mensch, der so seine Witzchen reißt und sogar weiß, dass Leipzig in Sachsen liegt. Na wenn das kein solides Grundwissen ist! Das Zelt ist schnell aufgebaut, Thomas geht mal schwimmen (ich habe leider keine Badehose dabei), ich gebe indessen Dagi per Handy Bescheid, dass bei uns alles in Ordnung ist und dann wird geduscht.
Was für eine Wohltat!
Von der Flasche Bier und dem kräftigen Abendbrot, auf der Wiese ganz zu schweigen.
Das haben wir uns wirklich verdient.
Die Sonne geht hinter Gletschergipfeln unter, es ist angenehm warm, ein guter Abschluss eines schönen Tages.
Und so richtig begreifen, dass wir noch vor wenigen Stunden 3500 Meter höher im Eis standen, können wir im Augenblick nicht.