Mittwoch, 15.08.2001

Draußen ein Grollen...
Die Spannung ist unerträglich, ich lausche besorgt. Es ist kalt, 5°C, das Zelt ist pitschnass vom Tau. Wieder das leise Grollen!
Wenn es nur nicht so kalt wäre, dann könnte man nachschauen! Bitte lass es kein Gewitter geben. Bitte gib uns noch einen oder besser zwei Tage!
Grollen, immer noch leise und weit entfernt!
Ich halte es nicht mehr aus, krieche aus dem Schlafsack, friere erst einmal eine Runde, streife die Zeltbahn, bin ebenso nass wie diese und reiße den Eingang auf.
Grollen?
Keine Wolke, blauer Himmel!!! Kein Grollen, ringsherum erwacht das Tal, noch sind die Sonnenlichter ganz oben auf dem Bergkamm.
Die Hähne in der näheren Umgebung haben schon seit Stunden für Unterhaltung gesorgt, wenn es nach mir ginge, würde heute das halbe Dorf Brathähnchen essen können.
Aber trotzdem sind wir ganz ausgeruht.
Der Tag gestern war gut, es war der zweite wesentliche Schritt zur Vorbereitung auf den Monte Rosa. Der Körper hatten nach dem Strahlhorn diese Ruhe nötig, die hat er bekommen.
Nachdem wir uns eine Packung kalter Wiener nebst alten Toastbrotscheiben hinein geekelt und das Zelt fluchend nass zusammengerollt haben, können wir fahren.
Es ist 08.40 Uhr.
Von der Straße im Tal aus präsentieren sich die Viertausender Liskamm und Vincentpyramide. Dort oben ist die Gnifetti-Hütte, knapp darunter die Mantova-Hütte. Man kann sogar die Spur über den Garstelet-Gletscher zur Gnifetti erkennen. Aber das ist so hoch, so weit weg! Kaum vorstellbar, dass wir das zu Fuß schaffen werden. Das sind 1600 Höhenmeter bergauf, die wir da heute bewältigen müssen.
Einige Minuten später treffen wir uns mit Mike und Jürgen auf dem Parkplatz an der Stolemberg-Seilbahn und packen bereits die Rucksäcke um. Erschreckenderweise sind unsere Rucksäcke wieder einmal viel zu groß und viel zu schwer, während Mike und Jürgen wirklich nur das Minimum mit sich herumtragen.
Aber morgen oben auf dem Gletscher wird das auf jeden Fall bedeutend weniger, da sind die Steigeisen, der Pickel, der Kombigurt, alles Masse und Volumen, was wir morgen nicht schleppen müssen.
Mike schlendert nun zur Seilbahn, wir anderen Drei machen uns auf den Weg talaufwärts.
Zunächst schlängelt sich der steinige Pfad auf dem östlichen Hang durch schönen Lärchenwald empor. Die ersten Schweißtropfen rinnen, es wird warm, die Lys rauscht tief unter uns, oben gleißen die Gletscher, weit über uns die Sellahütte, diese Höhe ungefähr müssen wir erreichen.
Deprimierend...
Zum wiederholten Male ein Blick auf die Uhr, 09.30 Uhr sind wir gestartet, jetzt ist erst eine halbe Stunde vergangen!
Und schon wieder lausche ich in mich hinein!
Ein leicht flaues Gefühl in der Magengegend hatte ich schon heute morgen im Zelt. Aber das ist der Druck, die Spannung vor dieser großen Tour.
Was wird uns erwarten?
Hält das Wetter, kippt es, kommt, das Tief schneller als angesagt?! Noch scheint die Sonne.
Erst, als wir auf einem kleinen Buckel in einem hohen Wiesenhang auf ca. 2400 Metern Höhe nach 1 1/2 Stunden die erste Rast machen, sehen wir erste Quellwolken über den Bergkämmen.
Italiener mit Tagesrucksäcken, die buchstäblich den Berg hinauf rennen, überholen uns. Wir haben jedoch Zeit.
Und wir versuchen, diese Landschaft zu genießen. Sogar die Kuhherde, die uns schweißüberströmte Wanderer mißtrauisch mustert, ist ein Erlebnis. Und dann auf 2730 Metern der kleine Wiesentalkessel unter dem 3000-Meter-Paß! Dort, auf den letzten Grasflecken liegen wir lange in der Sonne und ruhen uns aus. Nichts treibt uns...
Ich denke indessen, dass mir vielleicht einige Mineralien zu mehr Elan verhelfen würden.... Sch... Die habe ich im Auto unten vergessen! Nun rede ich mir erst recht ein, dass ich unbedingt eine Magnesiumtablette bräuchte.
Zum Glück hat Jürgen welche dabei. Bringt diese jetzt den erhofften Schub?
Jürgen als Genußmensch ist für mich übrigens ein gutes Gegengewicht zu Thomas, der in seiner Art lieber schneller gehen würde.
Aber so haben wir zu dritt ein gutes gemeinsames Tempo und liegen trotzdem gut in der Zeit. Das heißt, wir sind eigentlich schneller als vorausberechnet.
Über schlüpfrig glatten bläulichen Schieferschutt erreichen wir den Paß auf 3000 Metern, der das Tal abschließt. Dahinter wird der Stolemberg (3220 m) mit seinen schroffen Abhängen sichtbar. Links über uns das Hochlicht (3185 m), ein Wandergipfel.
Unser Pfad umrundet leicht ansteigend das Hochlicht ostwärts und nachdem wir große flache Gesteinsplatten überquert haben, beginnen die ersten Schneefelder.
Erschreckend hoch über uns können wir jetzt die Mantova-Hütte erkennen. Tatsächlich haben wir in der letzten Stunde nur ca. 100 Höhenmeter gewonnen.
Und noch viel höher, unwahrscheinlich hoch, schweift der schon vom letzten Jahr her bekannte Blick auf den Südabsturz der Vincentpyramide.
Aber bitte noch keinen Gedanken daran verschwenden!
Jetzt erst einmal müssen wir auf die zahlreichen Entgegenkommenden achten und die von ihnen zertretene Spur. Die Löcher, die sich auftun, wo sich aus den Schneefeldern große Felsblöcke erheben.
Überhaupt liegt hier oben in diesem Sommer wesentlich mehr Schnee als im vorigen Jahr.
Die ganzen Blockhänge sind mit Schnee bedeckt. Aber darunter gurgeln die Schmelzwasserbäche. Kein Vergnügen, dort einzubrechen...
Und ebenfalls wie schon im vergangenen Jahr liegt jetzt das Valsesia hinter dem Stolemberg unter einer dichten Quellwolkendecke, während über dem Gressoneytal die Sonne scheint.
Valsesia, Erinnerung an die Mortara-Hütte, an Adams kulinarische Köstlichkeiten, an eine stille, ruhige Hütte, ein wunderbares Tal...
Die letzten Meter über die recht steilen Schneehänge werden für mich persönlich zur Schinderei, die ich so, nach der Vorbereitung im letzten halben Jahr, eigentlich nicht erwartete.
Thomas und Jürgen sind ein gutes Stück voraus, ich quäle mich zunehmend langsamer zur nahen Mantova-Hütte empor.
Dort oben sitzen die Leute auf der Terrasse in der Sonne und sehen mir sogar noch zu, wie ich mich abmühe. Aber denen zeige ich's.
15 Uhr, Mantova-Hütte!
Wenn man es sich recht überlegt, haben wir für diese 1600 Höhenmeter (die Pausen weg gerechnet), ca. 4 1/2 Stunden benötigt. Eigentlich nicht schlecht.
Und obwohl Mike, der schon einige Zeit hier oben herum sitzt, feststellt, dass ich grau und weiß aussehe - verflixt, die Babysonnencreme von Mareike (Lichtschutzfaktor 25) sitzt wie ein nicht abwischbarer Film auf meinem Gesicht - fühle auch ich mich nach kurzer Zeit wieder ganz erholt.
Mike hat glücklicherweise schon heute morgen per Telefon für uns Lager im Winterrraum reservieren lassen.
Glücklicherweise!
Denn auch diese Hütte füllt sich mit zahlreichen Bergsteigern und Gruppen mit Bergführern.
Aber oben auf der Gnifetti ist das ja noch viel schlimmer. Wir möchten nicht mit diesem Gedränge von über 200 Leuten da oben tauschen. Da geht es hier mit dem netten Hüttenwirt doch viel gemütlicher zu.
So sehen wir noch eine ganze Weile von der Terrasse aus den immer dichter werdenden Quellwolken zu, die uns irgendwann völlig einhüllen.
Was wird geschehen?! Sind Gewitter zu erwarten?!
Für morgen Nachmittag ist laut ein paar Italienern ein Wettersturz vorausgesagt. So ein Mist!
Ob die Zeit für die Punta Gnifetti reicht?!
Mike und Jürgen bleiben gewohnt optimistisch, ich sehe immer wieder hinaus in das Grau der Wolken...
Es wird spürbar kühler, wir sind hier auf ca. 3500 Metern, doch der Blick auf den Höhenmesser verrät immer noch stabilen Luftdruck.
Aber Thomas, man kann es ihm ansehen, wird immer nachdenklicher.
Morgen Nachmittag schlägt es um, Gewitter! Was erwartet uns?!
Die Diskussion abends im Gastraum, nach dem guten Drei-Gänge-Menü, geht auch offen aus. Letztendlich wollen Mike und Jürgen ohne Seil morgen über den Gletscher, es nur zur Sicherheit mitnehmen, das ist aber nun wieder für Thomas und mich eine sehr unangenehme Vorstellung. Denn wir sind Familienväter, wollen jedes Risiko klein und kalkulierbar halten und eine Viererseilschaft ist immer wesentlich sicherer als eine zu zweit. Thomas wird immer ruhiger, ich habe auch keine Lust mit den beiden Junggesellen zu streiten...
Warten wir es ab.
Und was macht das Wetter, was wollen wir morgen tun?!
Wie weit gehen wir oder gehen wir überhaupt?! Draußen regnet es jetzt...
Erstaunlicherweise sinkt aber meine Laune und Zuversicht daraufhin nur unwesentlich.
Selbst abends kann ich recht gut einschlafen, sieht man einmal vom trockenen Rachen und Nasenschleimhäuten ab...
Die Schnarcher, mit uns übernachten noch Spanier, die morgen zur Vincentpyramide wollen, im Winterraum, zeigen, dass es nicht nur mir so geht.
Da es wirklich im Augenblick nicht klar ist, was morgen wird, hat es keinen Sinn, sich den Kopf zu zerbrechen. Hinauf oder hinab...
Einen Viertausender haben wir bereits, hier sind wir jetzt auf 3500, könnten also schnell oben und im Notfall wieder unten sein... Oder aber ganz absteigen... Warten wir es ab.
Das ist so eine Erfahrung, die ich mir seit dem letzten Jahr zu eigen gemacht habe. Es bringt nichts, sich vorher aufzureiben, das verdirbt den Tag und letztendlich kommt es sowieso ganz anders, als man es sich vorstellen kann.
Also Schokoladentäfelchen und Müsliriegel essen. Der Espresso in der Hütte ist heute Nachmittag übrigens auch nicht von schlechten Eltern gewesen. Das bringt Bewegung in den Kreislauf! Aber Thomas macht mir ein wenig Sorgen, er frißt da etwas in sich hinein. Das kenne ich! Das scheint die gleiche Angst zu sein, die mich vor einem Jahr auf der Gnifetti gepackt hatte, die Größe dieser Berge, dieses Eis ringsumher, diese Gewalt der Natur erschlägt Einen. Und diese Angst ist schlimm, man steigert sich hinein, kann nicht schlafen, ist früh wie zerschlagen, frustriert...
Man hofft, dass irgend etwas eintritt, was verhindert, dass man am nächsten Morgen auf den Berg muß.
Aber ich bin im letzten Jahr trotz dieser Angst mitgegangen, ohne Seil, völlig unvernünftig, man hat Verantwortung, das kann man eigentlich nicht tun...
Und schließlich standen wir doch auf der Vincentpyramide und es war ein wunderbares Gefühl. Ein Gefühl, was alle diese Ängste aufwog, was den Rückweg leicht machte, ohne leichtsinnig zu sein. Ein Gefühl, was mir auch in diesem Jahr die Angst nimmt.
Irgend etwas wird geschehen morgen. Man muß es annehmen, so wie es ist.

Donnerstag, 16.08.2001


Was ist mit dem Wetter?!
Mike war nachts draußen, er berichtet von Sternenhimmel.
Jetzt, es ist noch fast dunkel, halb fünf, ist die Unruhe im Haus ist groß.
Draußen ist tatsächlich Sternenhimmel! Nur von Südwesten sieht man einige hochliegende Wolkenbänke...
Und im Verlauf der nächsten Stunde hüllt sich der obere Teil des Liskamms in Wolkenballen. Ansonsten gehen wir einfach mal los? Sehen wir, wie weit wir kommen?
Die Vincentpyramide ist frei, die Spur auf dem Garsteletgletscher gut sichtbar, von oben dröhnt der Generator an der Gnifetti, dort ist auch Licht und einige Bewegung.
Frühstücken, Optimismus, irgendwie schmeckt es mir jetzt. Jürgen stellt Vorfreude fest und Mike ist ebenfalls wie elektrisiert. Und Thomas?
Thomas ist still und in sich gekehrt. Wir wollen warten, bis es ein wenig heller wird, er hat keine Stirnlampe, dann wollen wir gehen.
Er äußert sich im Augenblick gar nicht, man kann es richtig sehen, wie er mit sich kämpft.
Eine Entscheidung, die auch seiner Verantwortung für Frau und Kinder gerecht werden soll. Ist das Risiko, was wir heute eingehen kalkulierbar?! Hält das Wetter?!
Wir planen ca. 6 Stunden für den Aufstieg, 3 Stunden für den Abstieg. Das ist sehr lang.
9 Stunden, da kommen wir in den Nachmittag hinein, da soll das Wetter kippen, Gewitter auf 4500 Metern sind kein Spaß mehr.
Ob wir die kommende Nacht oben bleiben, wollen wir vor Ort entscheiden.
Sind wir so erfahren, dass wir uns in jedem Fall richtig zu verhalten wissen?
Ich glaube es nicht.
Andererseits glaube ich aber auch nicht, dass wir uns völlig leichtsinnig und dumm verhalten, wenn wir jetzt losgehen. Das Risiko ist einschätzbar, wir kennen den Weg, die Spur ist breit, viele viele Leute sind unterwegs und runter sind wir wesentlich schneller als hinauf. Und im Augenblick sieht das Wetter genauso aus, wie an dem Tag, als wir auf der Vincentpyramide standen.
"Ich bleibe hier, ich gehe nicht mit" Thomas hat sich entschieden.
Wir wollen wissen was mit ihm ist.
Er hat ein ungutes Gefühl.
Das habe ich bisher abgeschüttelt, ich habe zwei Glücksbringer bei mir, das Glücksarmband, welches mir Fränze zum Geburtstag geschenkt hat und mein Maskottchen, die kleine Plüschschildkröte in der Deckeltasche des Rucksacks. Obwohl auch ganz tief in mir drinnen schon etwas lauert, was sich breitmachen will.
Aber trotzdem weigere ich mich gegen den Gedanken, leichtsinnig mit der Verantwortung umzugehen, wenn ich jetzt mit Mike und Jürgen losmarschiere. Es ist ein Versuch, den wir abbrechen können und müssen, falls es gefährlich wird.
Also gehen wir zu dritt.
Wir schnallen die Eisen schon in der Hütte an, dann steigen wir bedächtig, Mike bleibt bereits hier zurück, den Hang des Garstelet-Gletschers an die Gnifetti-Hütte vorbei, aufwärts in Richtung der Vincentpyramiden-Südwand.
Weiter oben schwenkt die Spur nach Westen und trifft oberhalb der Gnifetti-Hütte auf die "Autobahn", wo schon viele Seilschaften unterwegs sind.
Und hier, kurz bevor die Spur steil aufwärts durch die Spaltenzone unterhalb der Vincentpyramide führt, äußere ich meinen Wunsch, mich sicherheitshalber anzuseilen.
Über den Tälern im Süden Wolken und ein rosa, oranger Schimmer der aufgehenden Sonne...
"Ich trage auch das Seil"... Ein faires Angebot oder?
Und...
Jürgen willigt ein. Wir seilen uns an, fragen den ankommenden Mike, ob er ebenfalls...
Nein, er will auf eigene Verantwortung ohne Seil gehen.
Wir gehen nun den Steilabschnitt über einige Querspalten aufwärts, überholen sogar nun ein paar Seilschaften.
Die Sonne geht auf und am Liskamm oben lichten sich die Wolkenballen. Nur ganz oben drüber, die Cirruswolken gefallen mir nicht.
Nach Osten, vom nächsten kleinen Plateau aus, der Aufstieg zur Vincentpyramide. Dort sind einige Seilschaften schon unterwegs. Sie gehen genau in die Sonne hinein. Herrlich...
Vor uns das felsige Balmenhorn mit der Statue oben drauf. Die Biwakschachtel da oben ist zu erkennen.
Kurze Trinkpause, ein heißer Tee, Pfefferminz mit einem Schuß Zitrone, köstlich...
Weiter, im Osten jetzt Schwarzhorn, dann Ludwigshöhe...
Immer weiter aufwärts, aufwärts...
Nicht stehen bleiben, es ist eisig hier oben, ganz anders als am Strahlhorn.
Die Füße werden kalt in den Lederschuhen. Sonne! Ihr Licht zaubert wunderbare Schattenspiele auf die geriffelte Schneefläche vor uns, bringt aber keine Wärme.
Wolken über dem Mattertal, dort Dent Blanche, das gar nicht weiße Horn, das Matterhorn, dort hängen schon die Wolken.
Nicht stehenbleiben, weiter... Wir wollen das heute schaffen!
Im Osten nun die Parrotspitze, der Wind wird stärker, fegt lange Schneefahnen vom Hang dort oben in den Himmel...
Das ist heute nichts für uns, zu stürmisch da oben auf diesem schmalen Grat.
Die Ludwigshöhe könnte man aber vielleicht auf dem Rückweg... Nicht leichtsinnig werden.
Es gibt nur erst einmal ein Ziel! Dort wollen wir hinauf!
Und dann sehen wir sie vor uns!
Die großen Drei des Monte Rosa!
Dufourspitze, felsig, schroff, für uns unerreichbar, Zumsteinspitze, der weite Sattel, Punta Gnifetti (oder Signalkuppe wie sie in der Schweiz genannt wird - wie kann man eigentlich einen solchen Gipfel mit einem solch profanen Namen wie Signalkuppe benennen) mit der oben thronenden Hütte. Unterhalb der Parrotspitze versinkt man in vom Wind angetriebenen Pulverschnee.
Die schmale Spur wird innerhalb von Sekunden verweht.
Jetzt bekommt man ein Gefühl dafür, was es bedeutet, bei Nebel und Sturm hier unterwegs zu sein.
Welch ein Glück, dass noch die Sonne scheint. Der mühsame Anstieg zum Sattel.
Ich erlebe nun einen ähnlichen Einbruch wie am Strahlhorn. Der Körper ist zwar kräftemäßig immer noch zur benötigten Leistung in der Lage, aber die dünne Höhenluft läßt einfach keine großen Anstrengungen mehr zu.
40 bis 50 Schritte, Pause, Hecheln, den hämmernden Puls beruhigen... Wieder 40 Schritte...
Dann Sturm auf dem Sattel, welcher Schneekristalle ins Gesicht peitscht. Die letzten Meter, steil die Kuppe hinauf... Ich kann nicht mehr, es ist schrecklich, wann hat das endlich ein Ende?!
Noch ein Schritt, noch ein Schritt, Pause... Stop Jürgen... Er zieht wie eine Maschine. Er ist oben, nur noch die 8 Meter Seillänge, jetzt bin ich es auch!
10.13 Uhr, mir ist ein wenig übel, das war die Anstrengung...
Wir sind oben!!! Punta Gnifetti, Signalkuppe, wie auch immer!
4554 Meter, wir haben es geschafft!!!
Im zweiten Versuch nach dem letzten Jahr haben wir es geschafft!!!
Vergleichbar ist die Erschöpfung auf den letzten Metern mit der am Kilimanjaro 1994! Aber so kurz vor der Leistungsgrenze wie damals sind wir hier trotzdem noch nicht.
Die im Wind flatternde italienische Fahne, der schwarze große Hüttenbau, die Schneewächten, Blick auf die gegenüberliegende Zumstein- und Dufourspitze, den Liskamm.
Dort hinten ist das Strahlhorn.
Unser zweiter Viertausender in dieser Woche!
Und doch spüre ich keinen Triumph in dieser Minute, sondern vielmehr den Wunsch, so schnell wie möglich von hier wieder zu verschwinden. Bergab...
In die Sicherheit, die ich gerade auf der von den Steigeisenzacken wie von Holzwurmbefall zerlöcherten Holzterrasse arg vermisse. Denn darunter gähnt der 2500 Meter tiefe schreckliche Abgrund der Monte-Rosa-Ostwand. Und das ist schon ein wenig bedenklich, was man dort weit unten durch die wehenden Wolkenfetzen erkennen kann. Man darf sich gar nicht vorstellen, wenn man sich im Wolkennebel, der jetzt aufkommt, auf dem Sattel verirrt und zu nahe an diese unheimliche Tiefe gerät.
Im Winterraum stellen wir unser Gepäck ab.
Nun müssen wir auf Mike warten.
Wir leisten uns eine heiße gute Suppe (in dieser Höhe!) und ein paar Ansichtskarten mit dem heiß begehrten Stempel der höchstgelegenen Berghütte Europas.
Und wir warten. Die Hütte füllt sich allmählich, wir haben gerade einmal 4 1/4 Stunden bis hier hoch benötigt, trotz der Qual am Ende eine Superzeit und sind bei weitem nicht die Letzten heute. Es treffen nach und nach auch die geführten Gruppen ein. Und eine Stunde nach uns kommt auch Mike. Er hat noch fotografiert.
Und immer noch warte ich innerlich auf dieses triumphale Gefühl, welches sich so gar nicht einstellen will.
Es ist eine Erleichterung, höher geht es für mich in den Alpen nicht mehr.
Es ist eine Befriedigung, diese Anstrengung hinter sich zu haben...
Aber kein Triumph, keine Begeisterung...
Das Gehirn ist noch nicht in der Lage das alles zu verarbeiten.
Nachdem Mike sich ebenfalls ausgiebig ausgeruht hat und ich allmählich einen wachsenden Druck und Kopfschmerz verspüre, beginnen wir nach dem gemeinsamen Gipfelfoto 12.25 Uhr den Abstieg.
Es ist völlig zugezogen, ab und zu tauchen Gestalten, die genauso müde wie wir vorhin aussehen, aus dem uferlosen Weiß auf.
Die Spur ist bergab zum Glück nicht zu verfehlen.
Nur auf dem Sattel, dort ist alles verweht, aber entgegenkommende Seilschaften zeigen uns die Richtung aus diesem Nichts.
Auf 4300 Metern befinden wir uns schließlich unter dem unteren Wolkenrand.
Um die Eisbrüche der Punta Gnifetti wehen weiße Wolkenschleier, es sieht wunderschön aus. Aber drüben das Matterhorn droht dafür mit einer dunklen Wolkenhaube. Nichts wie weg hier.
Die Besteigung der Zumsteinspitze und auch alle anderen Ausflüge auf die benachbarten Viertausender sowie den Gedanken an eine Übernachtung in der Margheritahütte haben wir wegen null Sicht und der Gefahr des Wetterumschlags aufgegeben.
Der Schnee, dort wo die Sonne scheint, pappt ekelhaft zwischen den Zacken der Steigeisen, man kommt leicht ins Rutschen oder man geht wie auf hohen Absätzen.
Als wir unter der Vincentpyramide vorbeilaufen, zurück bis an die Spaltenzone gehen wir ohne Seil, dann seilen Jürgen und ich uns auf meinen Wunsch an, schneit es ein wenig.
Mittlerweile sind die Täler von einer dichten Quellwolkendecke zugedeckt und auch über uns hat sich eine fast kompakte hohe Wolkenschicht gebildet, welche die hohen Viertausender einhüllt.
Der Firn ist sulzig, mühsam rutschen wir talwärts, Garstelet-Gletscher, an der Gnifetti vorbei.
Dann endlich, gegen 14.15 Uhr sind wir zurück und werden von Thomas mit Glückwünschen begrüßt.
Hinter meiner Stirn dröhnt ein Hammer. Es hat genügt. Eine Nacht da oben wäre, schon wegen der Höhe, nicht gut gegangen.
Und wir sind eigentlich auch ganz zufrieden, wieder hier, an der Mantova zu sein.
Thomas hat den gesamten Tag den Quellwolken zugesehen. Er sagt, dass ab 10 Uhr aus seiner Perspektive oben alles zugezogen war.
Wir sitzen ein wenig auf der Terrasse, Mike und Jürgen schlafen eine Runde, und ich versuche, noch einmal aus ihm herauszubekommen,was heute morgen seine Entscheidung verursacht hat. Denn jetzt wirkt er sehr unzufrieden, als ober das Gefühl hätte, eine Fehlentscheidung getroffen zu haben. Dabei ist es doch nur ein Berg, auf den er auch später noch hoch kann.
Die Gründe sind aber hauptsächlich in unserer gestrigen Diskussion ums Anseilen und den unsicheren Wetterverhältnissen zu suchen. Er wollte kein Risiko eingehen, welches seiner Meinung nach bestand. Und dann entstand dadurch sicher diese Angst, die ich genau so im vergangenen Jahr hatte.
Hätten wir uns gestern auf eine Viererseilschaft einigen können, wäre er eventuell mitgegangen. Schade....
Es ist eine Entscheidung, die viel Frust in ihm auslöst. Doch bei mir ist nun die Erleichterung da. Es ist vorbei, nein fast vorbei, noch müssen wir morgen Vormittag nach Gressoney hinab.
Das Abendessen wird bei Rotwein ganz nett, ein wenig feiern wir den Gipfel schon.
Übrigens beginnt eine Stunde nach unserer Rückkehr wieder der Regen.
Wir haben tatsächlich das letzte Stück vom guten Wetter nutzen können.
Thomas sagt, ein paar Italiener hätten heute schon fluchtartig auf Grund des bevorstehenden Wettersturzes die Hütte gen Tal verlassen.
Aber bisher ist noch alles ruhig.

Freitag, 17.08.2001

Heute Nacht um zwei muß Thomas hinaus. Er berichtet von Sternenhimmel und Wetterleuchten über dem Gran Paradiso im Süden.
Zwei Stunden später ist das Gewitter hier. Es blitzt und donnert und graupelt oder schneit. Aber es zieht relativ rasch ab.
Heute morgen sind wieder verhältnismäßig wenig Wolken zu sehen, nur die Vincentpyramide ist dicht, über den Tälern lagern jetzt schon Dunst und Wolken und auf dem Dach der Hütte taut der letzte Schnee der Nacht.
Viele gehen auch heute wieder hinauf.
Obwohl gestern an der Gnifetti oben schon wesentlich weniger Menschen zu sein schienen als vorgestern.
Wir bummeln, lassen uns Zeit, frühstücken, bezahlen (330.000 Lire für uns alle pro Nacht) bestaunen den gewaltigen Gewitteramboss der sich entfernt über dem Aostatal aufbaut und gehen dann irgendwann gegen 8 Uhr talwärts.
Mike läuft wieder über den Stolemberg zur Seilbahn, wir wollen zu Fuß nach Gressoney.
Der Gewitteramboss ist kaum noch zu erkennen aber zunehmend verdunkelt sich nun über dem Gressoneytal der Himmel.
Wir rutschen und rennen die Schneehänge hinab. Nur schnell runter, möglichst in den Talkessel unter dem 3000-Meter-Paß. Raus aus diesen exponierten Lagen. Der Pickel könnte wie ein Blitzableiter wirken. Immer schneller werdend erreichen wir den Paß, mittlerweile ist es fast finster geworden. Schlagartig beginnt es zu graupeln, die Hänge sind im Nu weiß.
Gleich zwei anderen, die bergauf unterwegs sind, verkriechen wir uns unter einem Fels auf dem Paß. Gern wäre ich noch die Schieferrinne hinab gekommen, denn nass wird das Ganze noch rutschiger. ..
Es blitzt und donnert nun in einem fort, die Windböen fauchen eisig über den Paß und lassen uns vor Kälte zittern. Es ist 9 Uhr.
So nutzen wir die Pause zwischen dem ersten und dem zweiten Gewitter, um uns weiter hinab zu tasten, vorsichtig über den Schieferschutt um bis zum nächsten Felsüberhang zu kommen, wo wir uns wieder schutzsuchend verkriechen. Die Luft ist voll Spannung, es graupelt und gießt, aber wir fühlen uns hier jetzt etwas sicherer als da oben.
Als das dritte Gewitter im Anmarsch ist, entscheiden wir uns, den Wiesenhang hinter uns zu bringen und möglichst den Wald zu erreichen. Thomas ist uns weit voraus, wir sind etwas langsamer, doch glücklicherweise geht das Ganze lediglich mit einem Regenschauer an uns vorbei.
Und das vierte Gewitter sitzen wir zum Schluss in dem Restaurant aus, wo wir schon am Dienstagnachmittag zur Tourbesprechung eingekehrt waren.
Und wir genießen den Capuccino mit seinem herrlichen Milchschaum in vollen Zügen.
Nun ist es wirklich vorbei.
Als Mike gegen Mittag kommt, er hat am Stolemberg auf den vom Graupel und Schnee glatten Felsen fast ein Unglück erlebt, packen wir rasch und fahren bis Gressoney St. Jean hinab, wo wir die letzten Lire in Souvenirs (Grappa etc.) umsetzen wollen.

Die Rückfahrt:

Im Tal hat es kräftig gewütet, überall liegen Schneehaufen, zahllose Blätter und Zweige hat es von den Bäumen geschlagen, es ist kalt...
Aber je tiefer wir kommen, desto wärmer wird es wieder.
In der Poebene, durch die wir bis Mailand und dann nach Lugano fahren, ist es unerträglich heiß, ab und zu gibt es ein paar Regentropfen. Mike und Jürgen bleiben noch eine Nacht bei Lugano, erleben allerdings am Morgen dort ein starkes Gewitter und kehren dann auch nach Deutschland zurück.
Wir, d.h. Thomas sitzt die gesamte Strecke am Lenkrad, fahren via Bellinzona, den kleinen St. Bernhard-Paß, Chur und St. Margarethen durch die Schweiz, sind 20 Uhr in Bregenz und 21 Uhr in Deutschland.
21.30 Uhr rufen wir unsere Frauen an, kündigen uns für heute Nacht noch an und wirklich, gegen 01.30 Uhr bin ich in Chemnitz, wo Dagi gewartet hat und Thomas einige Zeit später zu Hause... Und das hat nun auch sein Gutes.
Wir sind einen Tag früher als geplant zurück.

Die Kinder freut's und uns auch.