Sonnabend, 02.Juli 1994

Die Aufregung ist groß, im dämmrigen Licht der Deckenlampen sehen unsere Gesichter bleich und verschlafen aus.
Keiner ist jetzt in der Lage, mal kurz in unsere Kamera zu lachen.
Aber dieser kurze Spot muß sein, sonst glaubt uns das niemand zu Hause.
Gudrun und Rolf-Dieter bleiben liegen.
Sie haben solch starke Kopfschmerzen, daß sie, um die Gruppe nicht zu behindern und sich selbst die unnötige Quälerei zu ersparen, auf den Gipfel verzichten.
Auch Raphaele und Konrad, die sich zwar noch mit an den Tisch zum Tee setzen, die Kekse kann fast keiner essen, aber die Fruchtschnitte aus dem Rucksack läßt sich leichter schlucken, verabschieden sich von uns.
Und völlig überraschend steigt auch Erika aus, der wir den Gipfel noch am ehesten zugetraut hätten. Sie hat Kreislaufprobleme und verzichtet ebenfalls. Mit den guten Wünschen der Zurückbleibenden, sie wollen am Morgen hinab zur Horombo, wo die Luft besser ist, stapfen wir hinaus in die Nacht.
Es ist wärmer, als wir dachten, am Fenster -0,3°C, da werden es hier draußen ca. -2°C sein.
Der Sternenhimmel ist fast klar, nur unter uns stauen sich einige Wolken.
Die Esten und auch die Einzel-Gipfelaspiranten formieren sich. Wir ordnen uns ebenfalls zu einer Reihe, eigentlich geht es uns jetzt gut, erstaunlich gut.
Die Spannung der vergangenen Stunden hat sich gelöst, fast ungeduldig warten wir nun, bis alle bereit sind.
Und ein Uhr ist Abmarsch, zuerst die Einzelgänger mit ihren Guides, dann wir mit unseren 4 Bergführern und dann die estnische Gruppe.
Das Licht unserer Stirn- und Taschenlampen flackert über die finstere Landschaft.
Wie eine Kette von Glühwürmchen zieht sich die Karawane langsam bergauf.
Schritt, Atmen, Schritt, Atmen...
Die Esten wollen die Geschwindigkeit erhöhen und uns überholen, doch nach kurzer Absprache der Guides lassen sie das bleiben.
Wozu auch, wir brauchen unsere Kräfte für den vor uns liegenden 1000-Meter-Gewaltaufstieg.
Der Weg ist wirklich nicht sehr steil, anhand des Mawenzi versuchen wir ständig, unsere eigene Höhe festzustellen.
Sind wir nun schon höher als der Felsgipfel oder nicht? Dann geht der Mond auf und als auf ungefähr 5000 Metern eine dünne Schneeschicht den Boden bedeckt, ist der Pfad auch ohne Lampen zu erkennen.
Die Guides haben sich aufgeteilt und begleiten die Gruppe vorn, in der Mitte und hinten.
Sobald sich eine Lücke zeigt, springt einer ein und führt. So fühlen wir uns einwandfrei behütet. Scheinbar nicht mehr weit über uns zeigt sich schon der Kraterrand, wir holen einige Einzelgänger ein, überholen sie, wie hoch werden wir jetzt sein?!
Sind es jetzt schon 5200 oder gar 5300 Meter?
Sind wir bereits höher als der Mawenzi?
Es wird spürbar kälter.
Die Guides rufen in melodischem Singsang immer wieder Ermunterungen, aber noch fühlen, wir uns gar nicht so schlapp.
Der Mond verbreitet ein gutes Licht, wir können viel sehen.
Leider reicht die Helligkeit aber nicht für die Kamera aus.
Die Schritte werden etwas langsamer, die Atemzüge häufiger und heftiger, die Esten nähern sich. Wie hoch sind wir?!
Der Kraterrand scheint greifbar nahe. Bis wir an einem Felsüberhang das Schild sehen: "Hans Meyer Cave 5175 m A.S.L."
Es ist wie ein Schlag ins Gesicht, 2 1/2 Stunden sind wir unterwegs und sind erst auf 5175 Metern !!!
Die Rast tut zwar gut, aber die Enttäuschung legt sich schwer aufs Gemüt. Was soll das Ganze noch, wozu schinden wir uns hier ab?!
Nur um unseren, wohl krankhaften Traum zu verwirklichen, einmal auf dem Kilimanjaro zu stehen?!
Mike sitzt apathisch im Schnee, und auch bei den anderen macht sich eine gedrückte Stimmung breit.
Die Esten machen ebenfalls Pause, es entsteht ein buntes Gemisch von deutschen, russischen und Suaheli-Worten. Grotesk, den russischen Lauten aus unserer Schulzeit ausgerechnet am Kilimanjaro wieder zu begegnen.
Weiter geht's, aber jetzt fehlt jede Motivation, nur der dumpfe Gedanke, daß man eigentlich die letzten 500 Höhenmeter auch noch schaffen könnte, treibt uns noch aufwärts.
Weit über uns sehen wir stundenlang die Lampen einer Gruppe, die dicht unter dem markanten Fels Gillman's Point ist, aber Stunde um Stunde vergeht, die Lichter bleiben uns gleich fern und doch erreichen auch sie den Rand nicht.
Ist das alles furchtbar frustrierend, was eigentlich wollen wir hier?!
Unsere Schritte werden immer schleppender, der Wunsch, sich hinzulegen oder zu setzen immer mächtiger.
Schritt, Atmen!
Stehen, vorn kann jemand nicht weiter. Stau, langsam kriecht der schneidende Frost in die Füße und ergreift Besitz vom Körper. Die Schuhe wärmen nicht mehr, die Handschuhe sind klamm und kalt. Es werden -10°C sein. Helgas Blick auf den Höhenmesser zeigt uns 5400 Meter an. Eine immer größere physische Schwäche lähmt allmählich auch unser Denkvermögen. Noch nie zuvor im Leben standen wir so kurz vor unseren Leistungsgrenzen. Die letzten zweihundert Höhenmeter sind die Hölle. Im Schnee sitzen dunkle Gestalten, bloß nicht nachlassen jetzt, der Frost ist gefährlich.
Dagi kämpft sich vor mir Serpentine für Serpentine den steilen Hang hinauf. Wie um es mir selber zu zeigen, rede ich ihr gut zu. Nicht mehr weit, nicht mehr lange, dann ist die Qual vorbei. 30 Schritte, Pause, Luft holen, 30 Schritte, Pause... Pause....
Irgendwann gibt Christoph vor uns Zeichen, nur noch 20 Minuten, noch 10 Minuten, meine Apathie ist soweit fortgeschritten, daß ich nur mit Mühe über die Felsen und klettern kann und von einem Stein zum anderen stolpere und falle. Der letzte Felsen, dann Gillman's Point!!!
Mike übergibt sich, dann ist Dagi an der Reihe.
Am östlichen Horizont ein heller Schein, es ist 6 Uhr. Gleich geht die Sonne auf.
"Congratulations" vom Guide, wir sind oben, wir haben es geschafft!!!
Ein Traum ist verwirklicht, doch keine Spur von Freude oder Stolz ist vorhanden.
Wir sind einfach nur müde und so schwach wie noch nie.
Wie durch einen Schleier vernehmen wir, daß Christoph den Leuten, die zum Uhuru wollen, noch zehn Minuten gibt.
Irgendwo vor uns sitzen Susanne, Martina, Dieter, Johannes und Anne. Herbert ist mit Frederick schon zum Uhuru aufgebrochen. Wo nimmt dieser Mann nur die Kraft und den Ehrgeiz her?!
Helga, Michael und Christoph gehen los, wir bleiben sitzen, es geht nicht mehr. Mit Mühe zwinge ich mich noch, den sicher grandiosen Sonnenaufgang und diese Landschaft zu fotografieren und zu filmen, die Elektronik hält der Temperatur von ca. -14°C glücklicherweise stand. Die Northern Icefields, die einzigartigen Eisterrassen, der Krater unter uns, der Mawenzi tief unter uns, der Seddle, die ausgefransten Wolken über uns, die Wolkenbänke unter uns, Kenia, Tansania 4500 Meter tiefer.
Die Sonne, das Schneegrieseln...
Ein Gipfelfoto, die Bestätigung für alles. "You have reached Gillman's Point 5680 m A.S.L."
Eine Frau kommt, wir sahen sie gestern schon an der Kibohütte, sie ist völlig fertig und wird gestützt vom Guide.
Von den Esten sehen wir nur zwei oder drei Leute, der Rest hat wohl aufgegeben.
Wir zwölf sind jedoch oben, Martina, Susanne, Dieter, Mike, Dagi, Christoph, Helga, Michael, Johannes, Anne, Herbert und ich.
Und vier von uns erreichen den Uhuru Peak, Helga, Christoph, Herbert und Michael.
Eine Stunde warten wir ab und sehen dem Naturschauspiel Sonnenaufgang über Afrika zu, ohne es zu erleben.
Und um sieben beginnen wir den Abstieg.
Erst jetzt, im Tageslicht sehen wir, wie steil der Weg überhaupt ist, ein Glück daß es noch zu dunkel war, so blieb uns dieser deprimierende Anblick erspart. Vielleicht wären wir sonst umgekehrt.
Johannes, Anne, Martina und Dieter versuchen, auf dem Schutt abzufahren, wir anderen vier nehmen lieber Serpentine für Serpentine wieder unter unsere zitternden Knie und Füße.
Mike muß sich noch einmal übergeben, uns geht es wieder ganz gut, von der Müdigkeit abgesehen.
Kurz unter "Hans Meyer Cave", wie lange ist das schon her, holen wir Johannes und Anne ein.
Die beiden sind maßlos enttäuscht vom Kilimanjaro, sie haben sich etwas ganz anderes und vor allem nicht so Anstrengendes vorgestellt. Welch eine Hochzeitsreise.
Viertel vor neun sind wir an der Kibohütte unten.
Wir waren oben.
Kaum zu glauben, und wohl erst auf unserem Videofilm recht zu begreifen.
Und noch immer kein Fünkchen Stolz.
Wir waren halt oben und es war eine Quälerei.
Mit hämmernden Kopfschmerzen verkriechen wir uns in die Schlafsäcke, schlafen und warten auf die Uhurus.
Ein Koch stellt uns Orangensaft hin, aber nicht einmal der schmeckt im Augenblick.
Herbert trifft nach einer Stunde ein, er ist selbstverständlich furchtbar stolz, aber da wir so tun, als ob wir schlafen, müssen wir uns seinen Siegesbericht nicht anhören.
Mit Johannes und Anne, die so schnell wie möglich hier weg wollen, geht er dann allein zur Horombo hinab.
Die anderen Drei kommen gegen elf Uhr zurück und erzählen von den Gletschern, die sie noch gesehen haben.
Nach der wärmenden Suppe, die uns unsere lieben Köche noch zubereiten, setzen wir uns in Bewegung, talwärts in die Wärme, in die Niederungen ohne Kopfschmerz.
Und was wir uns in fünf Stunden hinauf geplagt haben, bewältigen wir nun in reichlich zwei Stunden.
Mit jedem Meter bergab steigt unsere Laune, der Seddle, ab 4000 Meter, tauchen wir in die Wolken ein, durchqueren die Heidelandschaft im Nebel und 14 Uhr haben wir die Horombohütten erreicht, wo auch alle Anderen auf uns warten.
Der Nachmittag vergeht wieder im Schlafsack, nur am Abend finden wir uns größtenteils zusammen, um den Tag noch einmal auszuwerten.
Und es stellt sich heraus, daß für jeden von uns der Gipfel schon wieder in so weiter Ferne liegt, daß wir respektlos lästern können. Nur der Bedarf nach solchen Höhenerlebnissen ist zunächst gedeckt. 4000 Meter genügen auch.
Wir waren oben.
Die Esten sind auch wieder da, sie feiern den Gipfelsieg mit großem Menü, Bier, Wodka und Ordensverleihung an die Drei, die am Gillman's Point bzw. am Uhuru Peak waren.
Und Christoph wird sich zu seinem Geburtstag, es gibt Schokoladenriegel als Geburtstagsrunde, auch einen Traum mit dem Uhuru Peak verwirklicht haben.
Zum 32. auf dem höchsten Punkt Afrikas.
Und das Wetter draußen ist scheußlich, es ist mild, neblig und es nieselt.